Margret Schleidt:
 DIE GETAKTETE GEGENWART (abstract)

Im Hier und Jetzt leben, ganz permanent, jeden Augenblick ganz gegenwärtig sein: das ist als erstrebenswertes Ziel oft zu hören. Ist es aber ein angemessenes Bild der Gegenwart?
Wir sind eng verbunden mit der Vergangenheit. Früheres hat seine Spuren in unseren Genen und unserem Gedächtnis hinterlassen. Auch wären wir keine Menchen, wenn wir uns nicht mit der Zukunft befassen würden.

In der Physik gibt es eine Vorstellung, daß die Gegenwart in der stetig dahinfließenden Zeit ein nicht meßbar kleiner Bereich sei.
Forscher "zerlegen" die Zeit neuerdings mit Laserimpulsen in immer winzigere Bereiche und hoffen so, letzte "Gegenwartskörnchen" zu finden, entsprechend den Atomen in der Materie.

Für unser Empfinden jedoch ist die Gegenwart nicht unmeßbar klein. Wir können sie fühlen, sie ist für unser Erleben existent.
So stellt sich die skurrile Frage: ist die Dauer der Gegenwart meßbar?
Die unerwartete Antwort lautet: sie ist es tatsächlich und sie dauert einige wenige Sekunden.

In der Wahrnehmungforschung wurde herausgefunden, daß die Eindrücke, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, nicht gleichmäßig nacheinander verarbeitet werden - obwohl wir es so empfinden - sondern in einzelnen Einheiten. Auf der Sekundenebene beobachtet man einzelne diskrete und meßbare Entitäten.
Das Gleiche geschieht bei unserem Tun: wir handeln in kleinen, gut unterscheidbaren Takten von begrenzter Länge. Das ergaben Meßdaten von alltäglichem Verhalten bei Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen. Sie beziehen sich sowohl auf emotionale als auch auf kognitive Vorgänge, die mehr oder weniger bewußt ablaufen können.
Auch im Erleben scheint diese Zeiteinheit vorhanden und mit der Empfindung eines "Jetzt" verbunden zu sein.

Wie können wir uns diese Segmentierung, in der wir wahrnehmen, handeln, sprechen und denken erklären? Eine plausible Annahme ist, daß unser Gehirn Ereignisse während einer Zeit bis zu drei Sekunden zu einer Einheit integrieren und zusammenfassen kann, die wir als Ganzheit erleben. Einer unserer zentralen Integrationsmechanismen ist wohl auf diese kurze Zeit beschränkt. Diese Zeittaktung bezeichnen wir als subjektive Gegenwart. Sie ist der für uns überschaubare "Augenblick".

Evolutionsbiologisch betrachtet handelt es sich mit dieser Zeittaktung um eine menschliche Universalie, d.h. sie ist in allen Kulturen zu finden. Es muß sich also um einen in der Stammesgeschichte herausgebildeten neurophysiologischen Mechanismus handeln.
Er ist sehr alt, denn wir finden ihn auch schon bei unseren nächsten tierischen Verwandten, den Affen. Bei ihnen sind allerdings die Zeiteinheiten kürzer, was unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen im Gehirn vermuten läßt.

Eine noch wenig untersuchte Fragestellung aus diesen Befunden ist folgende: Wie kommen wir in unserer schnelllebigen Zeit mit solchen genetischen Vorgaben zurecht? Auf der einen Seite ist die große Informations-Geschwindigkeit heute sehr reizvoll, und sie stimuliert uns. Auf der anderen Seite gibt sie uns vielleicht nicht genügend Zeit und Ruhe zur Verarbeitung, und wir werden womöglich überfordert. Wie leben wir in diesem erweiterten Spannungsbogen von evolutionsbiologischen Vorgaben und den Anforderungen der heutigen Zeit?



 VORTRAG IN GANZER LÄNGE (pdf)