Constanze Peres:
 JETZTZEIT – ERLEBNISZEIT – KUNSTWERK
 Was heißt es, von der Gegenwart des Kunstwerks zu sprechen? (abstract)

Das Verhältnis von „Zeit“, „Gegenwart“ und „Kunst“ eröffnet ein Themenspektrum, das einerseits von zeittheoretischen Ansätzen zum Problem der Gegenwart markiert ist, andererseits von der Frage, weche Rolle Zeitlichkeit und Gegenwart in der Struktur des Kunstwerks einnehmen. In meiner Konzeption werden diese Stränge in einer Ontologie des Kunstwerks zusammengeführt, die, wie im ersten Schritt darzustellen sein wird, Zeitlichkeit als tragendes Strukturmerkmal enthält – und zwar nicht nur in Bezug auf die Werke der „Zeitkünste“ wie Musik, Theater, Film, Performance etc.  sondern prinzipiell in Bezug auf jedes Kunstwerk, sei es eine Skulptur, eine Installaton, ein Gemälde oder eine Zeichnung etc. Danach kann die Struktur des Kunstwerks als eine ästhetisch-prozessuale 3-stellige Relation gekennzeichnet werden, deren drei Momente, die das  Kunstwerk konstituieren, nicht unabhängig voneinander sein können. Dies sind: 1. die produzierende, künstlerische Instanz, 2. das Resultat des künstlerischen Produzierens, das Kunstwerk-Schema, 3. der sog. Rezipient als diejenige kokonstitutive Instanz, die das künstlerische Resultat oder Kunstwerk-Schema je ereignishaft als Kunstwerk realisiert.

Im weiteren geht es um die Frage, wie in der Zeitlichkeitsstruktur des Kunstwerks das Zeitsegment der Gegenwart zu verorten ist, und welchen Stellenwert es hat. Das bedeutet zunächst, in einem zweiten Schritt zu klären, was es hier heißt, von „Gegenwart“ zu reden. Unter der Voraussetzung, daß Zeit als linearer Zeitpfeil zu denken ist, könnte man es bei einer Annäherung an den bei der abstrakten Idee belassen, Gegenwart sei nicht mehr als der mathematische Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft. Gegenwart hätte in diesem Fall weder einen ontologischen Status als Seiendes, noch eine phänomenale Relevanz als etwas, was wir erfahren können. Dann könnten wir das Denken über Gegenwart und Kunst einstellen, denn es wäre ein für diese Thematik belangloser Begriff. Nach der klassisch gewordenen (sprach)analytischen Zeittheorie McTaggarts setzt das Reden von „Gegenwart“ zwar auch den Bezug auf „Zukünftiges“ oder  „Vergangenes“ voraus. Entscheidend ist aber, daß im Gegensatz zu einer aus der 3.Person- oder Es-Perspektive feststellbaren Zeitrelationalität des „Vorher – Zugleich – Nachher“ von „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ aus der Ich-Perspektive gesprochen wird. Der Ausdruck „Gegenwart“ referiert dann auf eine „phänomenale“ Zeitspanne, die demnach als erfahrene Jetztzeit oder Erlebnisgegenwart aufgefasst werden kann.

Eine so verstandene Gegenwart erfährt, wie im dritten Schritt zu zeigen sein wird, in zweifacher Hinsicht eine herausragende Bedeutung im Rahmen der zeitlichen Struktur des Kunstwerks: Vorausgesetzt, daß sich 1) die Betrachter, Leser, Zuschauer, Hörer eine Zeit lang auf das ihnen künstlerisch Dargebotene einlassen, sind sie als Mit-oder KoKonstituenten des Kunstwerks zu bezeichnen. Denn in und mit der Zeitspanne ihrer Erlebnisgegenwart realisieren sie das allen  Rezipienten gleichermaßen dargebotene Kunstwerks-Schema je individuell als Dieses-Kunstwerk-Da. Dies geschieht, indem sie es ereignishaft mit ihrer Ich-Jetztzeit erfüllen , die sich wiederum aus ihren Erfahrungen des Vergangenen und ihren Erwartungen des Zukünftigen speist. D. h. die phänomenale Gegenwart des Kunsterlebens ist konstitutiv für den prozessualen ontologischen Status des Kunstwerks. Umgekehrt erfüllt 2) das Erleben des künstlerisch Dargebotenen die phänomenale Gegenwart. Es ähnelt anderen beindruckenden Erfahrungen in dem  quantitativen Aspekt, daß sich die erlebte Gegenwart dehnt oder verkürzt oder sogar jegliche Bedeutung verliert, indem die erlebende Person ihre unentrinnbare Situierung in der Sukzessivität der Zeit „vergißt“. Unhintergehbar ist jedoch der qualitative Aspekt. Anders als ein überwältigender Sternenhimmel, der die jeweilige Gegenwart ebenfalls bereichert, ist ein dargebotenes  künstlerisches Werk immer „about“: Es erfüllt die Jetztzeit mit einem einzigartig symbolisierten Angebot an Weltdeutungen, das wiederum deren einzigartige Deutung in der aktiven interpretativer Auseinandersetzung der jeweiligen Jetztzeit fordert (siehe 1.). Darüber hinaus fordert genau dieses offene und damit letztlich unerschöpfliche Interpretationspotential dazu auf, es in zukünftigen Jetztzeiten immer wieder ein Stück weiter und mehr auszuschöpfen.

Vortrag in ganzer Länge (PDF)