Das Jetzt ist eines der unheimlichsten, ungefügtesten und unsichersten Phänomene dieser Welt. Gut möglich, dass es dieses JETZT nicht gibt, dass es nur ein imaginärer Punkt unserer Zeitrechnung ist. Angefangen von Augustinus bis zu Heidegger und Derrida, kreisen bedeutende philosophische Werke um die Unmöglichkeit, die Zeit auf eben jenen Punkt – Jetzt – zu bringen. Das Jetzt entzieht sich. Während ich diese Zeilen schreibe, schaue ich auf die Uhr, die der Kremser Künstler Leo Zogmayer gestaltet hat: Ein khles Rund mit einer weißen Scheibe und jenen drei Zeigern, die mir das Unsichtbare des Zeitlichen als Spiel auf einer Fläche präsentieren. Die Bewegung der beiden dicken Zeiger, dieser Lügner für das menschliche Auge, entzieht sich meiner unmittelbaren Wahrnehmung, während der nervöse Sekundenzeiger wie ein gefangenes Tier sich einförmig und künstlich-ruckartig über das runde Feld bewegt. Diese Ruckartige markiert eine minimale Differenz: denn dieser Ruck ist das Ergebnis eines Programms, das immer noch Einheiten voneinander abgrenzt, so wie das Abzählen der Sekunden in meiner Kindheit 21, 22, 23, 24. Jetzt war niemals und wird nie sein. Vielleicht im Jenseits, das ein jenseits nicht nur des Raums sondern auch der Zeit wäre und wo der Augenblick so schon wäre, das man in ihm, anders als in der mephistophelischen Diktion straflos verweilen könnte, ohne seiner Seele verlustig zu gehen.
Ironisch und paradox hat Leo Zogmayer das Wort JETZT auf die Kreisfläche der von ihm entworfenen Uhr geschrieben, so als ob dieses unmögliche Signifikat JETZT durch die Magie der Schrift und des Wortes, des Signifikanten, eingefangen wäre. Die Schrift auf der Uhr petrifiziert gleichsam den Augenblick, aber es ist ganz offenkundig, dass gerade deshalb unsere Sehnsucht, dieses Jetzt einzuholen, nicht erfüllt, sondern karikiert wird. Es ist wie bei jenen Spielen, wo einem etwas hingehalten und sodann entzogen wird. Das ist zumindest ein Aspekt, der sich hinter dem schwierigen Wort der differance (Derrida) verbirgt, die sich von jener gewöhnlichen auch dadurch unterscheidet, das sie unaufhebbar ist.
Ein scheinbar argloses Spiel, das das zeitliche JETZT mit dem räumlichen HIER verbindet, führt uns Franz Kafka in seinem kurzen Bravourstück Der Kreisel vor, einem Text, der als Folie für ein vielfältiges Philosophieren dienen kann und gedient hat. Der Philosoph, man weiß nicht welcher, irgendeiner „trieb sich immer dort herum, wo die Kinder spielten“. Und die Kinder spielen mit dem Kreisel, der wie die Uhr einen Kreis markiert und anders als der Rundlauf des Sekundenzeigers auf einen Punkt versessen ist. Er ruckt auch nicht, sondern bewegt sich ganz rund. Im Gegensatz zur statischen Geometrie handelt es sich um einen Punkt, der in Bewegung ist. So simuliert er die Zeit im HIER und JETZT. Das ist es, was den Philosophen wie magisch an dem Kinderspiel anzieht.
Er ist ein ganz besonderer Philosoph, der nämlich das Große aus der sorgfältigen Erforschung des Kleinen begreifen möchte. Und der Kreisel, diese raumzeitliche Zwie (r)bel , ist solch ein Paradestück staunender Induktion. Man kommt dem Raum nahe im Punkt, der Zeit im Augenblick, der Raumzeit in der Drehung, die sich auf einen Punkt konzentriert. In der Drehung des Kreisels schwingt das Versprechen mit, in jenes unmöglichen Zeitpunktes habhaft zu werden, ja mit ihm eins zu werden: „Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen des Kreisels gemacht wurden, hegte er die Hoffnung, nun werde es gelingen, und dreht sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewissheit…“ Raum und Zeit scheinen in der einen Bewegung verbunden, aber – wer würde es anders erwarten – der Bann der Bewegung hält nicht an: „… hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm jetzt in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.“
Die ent-täuschende Normalität hat ihn wieder eingeholt: nicht könnte ungeheurer sein als die Differenz zwischen der reinen Bewegung, der schieren Raumzeit und dem armseligen gerät, das diesen magischen Moment herbeigezaubert hat und jetzt als ein planes Stück Holz vor ihm liegt wie ein platt gedrückter Käfer. Es gibt kaum eine plastischere und präzisere Erfassung der Paradoxien und enttäuschten Liebe in der Erfassung der Zeit, die sich immer in einem Raum bewegen muss und die doch nicht zu fangen ist. Sie einzufangen, bedeutet, den Augenblick zu verfehlen, mit ihm das JETZT und HIER. Wo Zeit nahe zu kommen scheint, das wusste schon Augustinus, da gibt es keine Dauer. Zeit ist nicht. Das muss am Ende auch der Kafkasche Philosoph zur Kenntnis nehmen.
Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Josef Bernhart, Frankfurt/Main: Insel 1987, S. 601- 671.
Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.
Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1986.
Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe Frankfurt/Main: Fischer 1970.
Leo Zogmayer, JETZT.
Wolfgang Müller-Funk, Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin: Akademie 1995.
Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Zeit. Mythos, Phantom, Realität, Wien- New York: Springer 2000.