Andreas Obrecht:
 ZEITREICHTUM - ZEITARMUT
 Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit (abstract)

Der Beitrag basiert auf einem 2004 vom Autor veröffentlichten Buch, das auf viele illustrative Beispiele aus zwanzigjähriger Feldforschung zur Veranschaulichung kulturspezifischer Zeitsysteme zurückgreift. Materialien aus Ethnographien, qualitativen Interviews, Feldforschungsprotokollen und Tonbandaufzeichnungen werden zur Erklärung des Unterschiedes zwischen „Ereigniszeiten“ (in afrikanischen, afro-karibischen und melanesischen Kulturen) und quantifizierten Zeitsystemen ebenso herangezogen, wie kulturphilosophische und –soziologische Betrachtungen und Diskurse. 

Die Verbreitung der "Uhrzeit" - samt ihrer philosophischen und kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen - insbesondere seit der Renaissance wird vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse skizziert.  Koloniale Eroberung und  die zunehmende naturwissenschaftliche Welterfassung sind Voraussetzung für das Aufkommen analytischer und prognostischer Gesellschaftswissenschaften (z.B. Ethnologie, Soziologie) im Zuge der Konstruktion der "Weltzeit". Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die räumliche, gegen Ende des 20. Jahrhunderts die zeitliche Eroberung des Planeten abgeschlossen. Es wird in „Echtzeit“ kommuniziert und die sozialen und ökonomischen Folgen sogenannter „Enträumlichung“ und „Entzeitlichung“ scheinen das Territorialprinzip als Ortsparadigma des Sozialen - in den industrialisierten reichen Ländern - tendenziell aufzulösen.

Vernetzung, Verdichtung der Kommunikation, der Verkehrswege, des Handels auf der einen Seite, Marginalisierung, Abschottung und Verarmung ganzer Kontinente (subsaharisches Afrika) auf der anderen Seite der Medaille weltweiter Beschleunigung! Der jeweils kulturspezifische Umgang mit Zeit kann auch als erklärendes Prinzip für sogenannte "Unterentwicklung" bzw. "Modernisierung" herangezogen werden: "Arme" zeitreiche Gesellschaften - insbesondere in Ländern des subsaharischen Afrika – stehen "reichen" zeitarmen Gesellschaften gegenüber. Im Prozess der „Modernisierung“, der sich – wenngleich wesentlich langsamer – auch in Armut vollzieht, werden zyklische Zeitvorstellungen allmählich durch lineare verdrängt: Transformation der gerontokratischen, mythologischen Ordnungen, Autonomisierung und Individualisierung aufgrund der Geldökonomie, Intimisierung der Familie aufgrund des Städtewachstums, Mobilität etc. Doch gibt es auch vielfach Widerstand gegen das „moderne Diktat der Zeit“, nicht nur in den zeitlich dynamisierten westlichen Ländern, sondern gerade auch in Ländern mit geringer volkswirtschaftlicher Produktivität.

Zeitreichtum oder Zeitarmut, also die individuelle und gesellschaftliche Organisation von sozialer Zeit, resultieren auch aus den jeweils zugrundeliegenden religiösen, mythologischen, epistemologischen Ordnungen. Dabei geht es um die weltbildkonstituierende "Richtung" von Vergangenheit und Zukunft, bzw. um den Ort des Individuums im Kontinuum der Zeit. Religiöse Konzepte und Jenseitsvorstellungen - ob dies nun Ahnenkulte in Afrika oder Light Age-Philosophien in der industrialisierten Welt sind - korrespondieren ebenso mit der sozialen Zeit, wie die Konstruktion und Dekonstruktion des natur-wissenschaftlichen Weltbildes, das zu neuen gesellschaftlichen Utopien aber auch Disaster-Szenarien führt. Die soziale Konstruktion von Zeit - zwischen Beschleunigung und Entschleunigung - schafft nicht nur den spezifischen Raum, in dem "Identität" erlebt wird, sondern wird auch die Qualität unserer Zukunft- gleich wo geboren - bestimmen.